Die Johanneskirche in Bochum (1966) entstand fast zeitgleich mit der Berliner Philharmonie (1959 – 1965), Scharouns wohl bekanntestem Werk. Diese ist geradezu revolutionär, durch atemberaubende Innenräume, durch den Verzicht auf Symmetrie, durch eine durchgängige Gestalt- und Detailqualität. Etwas davon ist bei der fast zeitgleich geplanten Kirche auch zu spüren.
Zurückhaltend ist das Erleben des Gebäudes von der Straße, die Annäherung, der sammelnde Vorraum, der gelenkte Weg in den Kultraum. Dieser wiederum entwickelt seinen Charme durch vielfältige Details: die sonnendurchflutete Südseite, den Altarbereich, der durch subtile Höhenversprünge emporgehoben wird, die Lichtführung des Zeltdaches.
Die kleinen Fenster setzen Lichtakzente im Inneren.
Die Wahl der speziell angefertigten Ziegel ist eine Reminiszenz an den Ort. Im „Glockengarten“ gab es eine Ziegelei und eine Glockengießerei. Auch der hochwertige Quarzit-Fußboden und die sägerauhe Dachuntersicht unterstreichen den eigenen Charakter dieser Kirche. Nicht vergessen werden soll an dieser Stelle die Rolle des Stuttgarter Architekten Gundolf Bockemühl, der die Ideen und Konzepte Scharouns vor Ort umgesetzt hat.
Scharoun hat kein so großes Repertoire an Kirchenentwürfen vorzuweisen wie die bekannten Kirchenarchitekten Rudolf Schwarz, Otto Bartning, Dominikus und Gottried Böhm, aber er hat mit der Johanneskirche ein Kleinod hinterlassen, das auch in der Zukunft einen wichtigen Beitrag zur Kirchenbaugeschichte liefert.
Die Johanneskirche von Hans Scharoun in Bochum stellt nicht nur ein Stück moderner organischer Architektur dar, sondern auch eine Symbiose von christlicher Religiösität und moderner Formgestaltung – eine Symbiose, die unsere Kultur im Zeichen einer tiefgreifenden Orientierungskrise, in der es vor allem um den Platz der Religion im säkularen Leben der modernen Zivilgesellschaft geht, dringend nötig hat, um zukunftsfähig zu werden.
Die Johanneskirche steht gleichermaßen für das Moderne der Architektur wie für moderne Religion, für säkulare Zivilgesellschaft und zeitgenössisches Christentum, die ineinander übergehen.
Diesen „Edelstein“ moderner Kultur gilt es zu pflegen, ihn im Verbund mit anderen Kostbarkeiten unserer Kultur glänzen zu lassen. Dies ist die Aufgabe der Gemeinschaft, die in dieser Stadt und in diesem Revier lebt und mit Recht stolz darauf sein kann, dass es solche Anziehungspunkte gibt wie die Johanneskirche von Hans Scharoun in Bochum.
Tom Tritschel, Pfarrer der Gemeinde
„So ist es heute unser Wunsch, daß es zu keiner zu frühen Erstarrung der lebenskräftigen Bewegung, der lebendigen Wandlung kommen möge, zu keiner voreiligen Perfektion – auch nicht im Bereich des Technischen. Daß vielmehr statt Perfektion Improvisation gelten möge, die den Weg der Entwicklung offenhält. Dies ist auch mein Wunsch aus der Sicht des Architekten.“
Hans Scharoun – bei der Verleihung des Erasmus-Preises in Rotterdam 1970
Nun, eigentlich heißt sie „Johanneskirche“ und wohl die wenigsten wissen, welches architektonische Kleinod sich hinter diesem Namen verbirgt. In meiner Heimatstadt Weimar gibt es die „Herderkirche“, unter diesem Namen kennt sie jeder Weimarer – Herder hat hier gepredigt. Eigentlich heißt sie „Stadtkirche St. Peter und Paul“. Wenn Sie einen Weimarer nach dieser Kirche fragen, kommen die meisten ins Stocken. Die „Scharoun-Kirche“ in Bochum könnte ein stehender Begriff werden, so wie die „Herderkirche“ in Weimar. Nun ist Hans Scharoun kein berühmter Prediger, aber ein Pionier der organischen Architektur der mit dem Bau der Berliner Philharmonie Weltruhm erlangte und dessen Wohnsiedlung von 1930 in Berlin 2008 in das Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen wurde. Die Johanneskirche in Altenbochum, Glockengarten 70, ist der einzige von Hans Scharoun ausgeführte Kirchenbau, und ist es wert in dieser Einzigartigkeit gewürdigt zu werden – so wie etwa die „Le Corbusier-Kirche“ in Ronchamp, von der auch die wenigsten wissen, dass sie „Chapelle Notre-Dame-du-Haut“ heißt, und die nicht nur eine Wallfahrtskapelle für Christen geworden ist, sondern auch für alle architektur- und kunstinteressierten Menschen der Welt. Es gab ja durchaus einige Entwürfe Hans Scharouns für Kirchenbauten an verschiedenen Orten, gebaut wurde nur die „Johanneskirche“.
Der 1893 in Bremen Geborene entwickelte schon als Kind außerordentliche zeichnerische Fähigkeiten und fand beim benachbarten Architekten Hoffmeyer Förderung und Anerkennung. So ist eine Zeichnung des Siebzehnjährigen von 1910 erhalten, die einen ersten Kirchenentwurf zeigt – „Kirche als Fels“. Zu sehen ist ein mutiger Entwurf, gewaltig aufstrebend und scheinbar in keinerlei Kirchenbautradition verhaftet. Um einen Innenhof herum gruppieren sich verschiedenartige Bauwerke, die nur in der Außenansicht eine Einheit ergeben. Der Innenraum war ihm wichtig und Ausgangspunkt seiner architektonischen Überlegungen. Er baute von innen nach außen. Auf dieser Zeichnung formuliert er auch ein erstes erstaunliches Credo als Architekt: „Ein selbständiger Architekt soll sich nicht von Sensationen, sondern von Reflexionen leiten lassen.“
Schon ein Jahr später, noch als Schüler, beteiligte er sich erstmalig an einem öffentlichen Wettbewerb in Bremerhaven – er entwarf erneut eine Kirche. Seine zwei Entwürfe erregen beim Preisgericht „großes Interesse“, werden aber nicht gebaut. Aber die Titel der beiden Entwürfe erscheinen wie ein Programm – „Andante“ – „Alles um Liebe“.
1919 steht der junge Scharoun mit seinen Intentionen inmitten hoher expressionistischer Ideale. Die Kirche wird zum „Volkshaus“ als „Stadtkrone“, in dem die Fähigkeiten der Menschen zusammenströmen und sich zum Geiste erheben und vom Geiste befruchtet werden - Innenräume dem Höchsten dienend. Das höhere und das niedere Ich durchdringen sich im Innenraum - utopische Entwürfe einer Kirche der Zukunft, architektonisch immer im Spiel zwischen knospenhaft vegetabilen und kristallinen Formen. So entstand auch ein Entwurf für das Volkshaus Gelsenkirchen, der aber nicht verwirklicht wurde.
In der weiteren Entwicklung Scharouns versachlicht sich seine architektonische Sprache und wird in zunehmendem Maße zur Dienerin des Innenraumes, immer organisch entwickelt aus der konkreten Funktion. Es folgten auch weitere Kirchenentwürfe, jedoch blieben auch sie alle ungebaut – z.B. die Evangelische Kirche in Breslau 1932, Kirche St.Georgen Berlin 1933, Kirche Verklärung Christi in Berlin-Schöneberg 1966, Evangelische Kirche Wolfsburg-Rabenberg 1966.
Die Johanneskirche in Bochum verdankt ihren Bau einem glücklichen Umstand. Als 1964 die Gemeinde der Christengemeinschaft in Bochum einen Kirchenbau anstrebte, lebte in der Gemeinde Gertraude Bleks, geb. Schminke. 1933 hatte Hans Scharoun ihr Elternhaus in Löbau erbaut, das heute weithin berühmte „Haus Schminke“. So kam durch sie der Kontakt zu dem Freund der Familie zustande. Im engen Gespräch mit dem damaligen Pfarrer der Gemeinde Dr. Diether Lauenstein entwickelte Scharoun die Konzeption. Schon beim ersten Gespräch 1965 in Berlin entstand eine Handskizze, die leider nicht erhalten ist. 2009 fanden sich durch die Vermittlung eines ehemaligen Studenten Hans Scharouns, dem Düsseldorfer Architekten Martin G. Großmann, bei dem Berliner Architekten Wolfgang Freitag die ersten elf Handzeichnungen Scharouns zur Johanneskirche. Wolfgang Freitag war Mitarbeiter von Scharoun und hatte seine Handzeichnungen in Architekturzeichnungen zu übertragen. In ihnen ist manches vom Werdegang des Entwurfes ablesbar. Akribisch ließ sich Scharoun von Dr. Lauenstein die Funktionen und Vollzüge im Gottesdienst beschreiben - von innen nach außen - und versetzte sich imaginativ in den zu bildenden Raum. So entstand ein Gebilde aus mehreren sich durchdringenden Räumen in einem.
Dem gegenüber tritt der Weg von außen nach innen. Wie nähere ich mich der tiefsten Innerlichkeit? Wie betrete ich einen solchen Seelen- und Geistes-Innenraum? In traditionellen Kirchen betrete ich den Kirchenraum in der Regel dem Altar im Osten gegenüberliegend durch ein West-Portal. Die Symmetrie der Kirche bestimmt den Weg. So auch im ersten Entwurf von Hans Scharoun für die Johanneskirche. Seine „Reflexionen“ und Imaginationen führen ihn aber weiter. Um einen Innenraum – auch seelisch-geistig – zu betreten muss ich von außen kommend eine Umwendung vollziehen – eine Metanoia (μετάνοια) - ein Umdenken, eine Sinnesänderung im johanneischen Sinne. Diesen Vorgang müssen wir beim Betreten der Johanneskirche auch physisch vollziehen. Scharoun führt uns im Foyer zunächst gegen eine Wand und lässt uns innehalten - erst im Umwenden zeigt sich die Tür zum Kirchenraum.
Betritt man den Kirchenraum – das große Zelt – befindet man sich in einem lichten Raum. „Lichtwand“ so nannte Scharoun das wandfüllende dreieckige Fenster an der südlichen Seite des Raumes. Kein mystisches Dämmern – „wachet und betet“ (Matth.26.41) scheint der Raum zu sagen. Scharoun bestand auf weißem Industrieglas, keine farbigen Fenster. Nach Osten zum Altar hin senkt sich der Raum der Gemeinde unmerklich ab, während das Dach ansteigt, um über dem Altarraum seinen höchsten Punkt zu erreichen – ein Oberlicht.
Dem Raum der Gemeinde steht der Altarraum gegenüber, er wiederum gliedert sich dreifach entsprechend seinen Funktionen.
Im Süden durch eine Wand vom großen Raum getrennt befindet sich die Sakristei – der Raum der Vorbereitung des Gottesdienstes – mit allen nötigen Einrichtungen in Einbauschränken bis hin zum Waschbecken.
Im Norden erhebt sich der Raum der Verkündigung und Predigt. Verkündigung von oben – von einem erhöhten Ort. Die Kanzel – ein Pult aus Stahl und Holz, wie es schlichter nicht sein kann. An der Nordwand befinden sich zwei kleine rechteckige Fenster, die auch von außen, der Straßenseite sichtbar sind. Ein fast humoristisches Detail, das von außen Rätsel aufgibt. Oft zitiert ja Scharoun mit den runden Fenstern Bullaugen – seiner maritimen Herkunft entstammend. Hier wird er fast symbolistisch. Die beiden kleinen Rechtecke seien Buchseiten. Das Evangelium – ein Buch in dem von der anderen Seite her ein Licht durchscheint. Auf der Kanzel unter den Fenstern sollte nach seiner Idee immer ein aufgeschlagenes Evangelium liegen.
In der Mitte der Altar. Auch dies ein schlichter Entwurf Scharouns, die heute oft in Vergessenheit geratene Doppelheit des Altares als Grab und Tisch betonend. Über einem kubischen Sarkophag aus Granit steht – der Kanzel entsprechend – ein Tisch aus Stahl und Holz. Durch die Vermittlung von Hans Scharoun entstanden ein Altarbild von Fritz Winter „Licht“ (1968) und mannshohe Kerzenleuchter (1970) von Wilhelm Wagenfeld, mit denen der Siebzigjährige an den Entwurf seiner weltberühmten „Bauhauslampe“ von 1924 anknüpft.
Das alles befördert eine ruhige unaufgeregte Stimmung und macht die Sicht frei auf Unsichtbares, öffnet die Sinne für Unerhörtes.
Im Nordwesten des Raumes befindet sich der Raum der Musiker. Der Klang steigt von hinten auf, wie die kleinen dreieckigen Fenster dieses Raumes – Noten aus Licht, wie sie sich auch in der Berliner Philharmonie finden. Die Akustik ist überragend und wird von Musikern sehr geschätzt. Die Verkleidung der Decke mit rohen Brettern tut ihr akustisches Werk und befördert zugleich den Eindruck des Zeltes. Ein Raum des Wortes – ein Raum des Klanges - „Andante“ und „Alles um Liebe“.
Die Durchdringung der verschiedenen Räume erzeugt die zeltartige Raumplastik - „Kirche als Zelt“. Das Zeltartige tritt bei Scharoun immer wieder in Erscheinung, und die Ähnlichkeit der Dachkonstruktion der Berliner Philharmonie und des Kammermusiksaales ist schon eindrucksvoll. Die „Berliner Schnauze“ findet ja immer treffende Namen, für die Philharmonie „Circus Karajani“. Der Innenraum ist das Entscheidende. Auf die Frage eines Studenten, ob Scharoun denn mit der Fassade zufrieden sei, antwortete er: „Hat sie denn eine?“ Bei der Frage nach der Unscheinbarkeit der Kirche von außen sagt er, sie müsse schöner werden je mehr man nach innen kommt, von außen sähe sie aus „wie ein geduckter Hund“. „Die Kirche als Zelt“ scheint mir nicht nur eine architektonische Signatur zu sein, sondern im Sinne obigen Zitates Scharouns auch auf einen zukünftigen Kirchenbegriff zu verweisen - einen Begriff, der die Wandelbarkeit, das Bewegungselement auch im Religiösen umfasst. War doch einst die Kirche ein Zelt und mobil – die Stiftshütte des Alten Bundes – so scheint für die Zukunft wohl die Zeit machtvoller Demonstrationen im Bau – „ein` feste Burg ist unser Gott“ - im Lutherjahr wieder hoch im Kurs - vorbei zu sein. Der zeitgenössische und zukünftige Gott baut sich bewegliche, wandelbare Häuser.
So entstand in Bochum ein weltweit einzigartiger Kirchenbau, der 1997 als Baudenkmal des 20. Jahrhunderts unter Denkmalschutz gestellt wurde, seit 2012 „Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung“. Die Gemeinde der Johanneskirche feierte am 3. Advent 1966 die Kirchweihe die sich im letzten Jahr nun zum 50. Mal jährte. Eine herzliche Einladung zur Besichtigung!
Zur Sanierung der Kirche gründete sich 2007 die Initiative Scharoun-Kirche. Nach einer gründlichen Bestandsaufnahme wurde klar, dass eine nachhaltige Renovierung der Johanneskirche ca. 540.000 € an Kosten verursachen würde. Es war von Anfang an auch klar, dass die kleine, sich nur aus Spenden und Beiträgen finanzierende Gemeinde der Christengemeinschaft diese Gelder weder direkt noch in Form von Darlehen würde aufbringen können. Durch eine breit angelegte Öffentlichkeitsarbeit wird versucht die nötigen Mittel einzuwerben. So entstanden Broschüren, Postkarten, ein eigenes Internetportal (www.scharoun-kirche.de). Unterstützt wurde und wird diese Arbeit durch öffentliche Vortragsveranstaltungen, Konzerte, Ausstellungen, Rundfunk- und Fernsehbeiträge, Beiträge in der Lokal- und Fachpresse. Es wurden Förderanträge an private Stiftungen, an Stadt, Land und Bund gerichtet. Nach mehreren Misserfolgen stellten sich auch Erfolge ein, so dass wir die dringendsten Aufgaben, die Erneuerung des Kirchendachs und den Schutz der Lichtwand mit Eigenmitteln, Spenden und Fördergeldern verwirklichen konnten. Dank der unter Vertrag genommenen Architektengemeinschaft Bruckhoff/Gehrke (Bochum/Berlin) gelang es uns auch, alle denkmalrechtlichen und urheberrechtlichen Fragen einvernehmlich zu regeln. Die Baumaßnahmen wurden vollständig aus Spenden finanziert. Neben privaten Zuwendungen waren dies vor allem Mittel der Deutsche Stiftung Denkmalschutz und der Wüstenrot Stiftung, sowie Gelder von Bund und Land.
Allerdings ist die Sanierung noch nicht abgeschlossen. Es muss im Kirchenraum für eine bessere Beleuchtung gesorgt werden. Der aus Quarzit bestehende Fußboden ist an einigen Stellen gerissen und bedarf der Ausbesserung. Schließlich sollte die 50 Jahre alte Ölheizung mit Warmlufteinblasung durch eine moderne, umweltfreundliche und energiesparende Heizungsanlage ersetzt werden. So bieten die kommenden Jahre noch vielfätige Gelegenheiten für „lebenskräftige Bewegung“, „lebendige Wandlung“ und „Improvisation“, „die den Weg der Entwicklung offenhält“ Dies ist auch mein Wunsch aus der Sicht des Pfarrers der Gemeinde.